Schlussanträge des Generalanwalts des EuGH vom 15.07.2021, Rs. C-261/20  

Mehr als zwei Jahren ist es nun her, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit Urteil vom 04.07.2019 (Rs. C-377/17) entschieden hatte, dass Deutschland mit seiner HOAI und deren verbindlichen Höchst- und Mindestsatzhonoraren gegen die sog. Dienstleistungsrichtlinie und damit EU-Recht verstößt. Deutschland hat reagiert, die europarechtswidrige Preisbindung der HOAI wurde zwischenzeitlich vom HOAI-Verordnungsgeber aufgehoben, und ab dem 01.01.2021 stellen die Honorare der HOAI nur noch unverbindliche Empfehlungen dar. Abweichungen nach oben und unten sind jederzeit möglich, sofern diese – in Textform – vereinbart werden. Ohne Regelung zwischen den Vertragsparteien geltend die Mindestsätze, welche jetzt Basissätze heißen.

Bis heute ist hingegen noch immer nicht klar, wie im Hinblick auf die das bislang zwingende Preisrecht der HOAI mit Verträgen umzugehen ist, die vor dem 01.01.2021 unter dem Anwendungsbereich der HOAI 2009 und HOAI 2013 geschlossen wurden und bei welchen die Honorarvereinbarungen die Mindestsätze der seinerzeit geltenden HOAI unterschreiten. Die entscheidende Frage ist, was insoweit bei Honorarrechtsstreitigkeiten von deutschen Gerichten zu beachten ist, die HOAI mit ihren Mindestätzen als in Deutschland bis zum 31.12.2000 geltendes Preisrecht, oder geht das Urteil des EuGH vom 14.07.2019 dem deutschen Recht vor mit der Folge, dass deutsche Gerichte die Vorschriften zu den Mindestsätzen (insbes. § 7 HOAI 2009/2013) trotz entgegenstehender HOAI nicht mehr anwenden dürfen? Nachdem sich die Juristen und insbesondere auch die Oberlandesgerichte hierzu in bereits in zwei konträre Lager gespalten hatten, und zahlreiche Honorarprozesse hierzu (sog. „Aufstockungsklagen“, mit denen sich Architekten und Ingenieure auf ein Mindestsatzhonorar berufen) von den Gerichten ausgesetzt wurden, hatte der BGH, um die Rechtsunsicherheit zu beseitigen, im Mai 2020 (BGH, Beschluss vom 14.05.2020 – VII ZR 174/19, wir hatten hierzu berichtet) ein sog. Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gerichtet und diesen angehalten, zu entscheiden, ob die vom EuGH angeführte Verletzung der in der europäischen Dienstleistungsrichtlinie konkretisierten Niederlassungsfreiheit durch die Preisbindung der HOAI dazu führt, dass in einem laufenden gerichtlichen Verfahren zwischen zwei Vertragsparteien § 7 HOAI mit seinen verbindlichen Mindestsätzen nicht mehr anzuwenden ist.

Der Generalanwalt des EuGH hat die Vorlagefragen des BGH jetzt dahingehend beantwortet (Schlussanträge vom 15.07.2021, Rs. C-261/20), dass der Dienstleistungsrichtlinie – entgegen der Bedenken des BGH – unmittelbare Wirkung zukommt, und die maßgeblichen Bestimmungen der HOAI 2009/2013 zu den Mindestsätzen von deutschen Gerichten auch für vor dem 01.01.2021 geschlossene Verträge nicht mehr anzuwenden sind. Dies ergibt sich nach den Ausführungen des Generalanwalts zum einen aus dem besonderen Charakter der die Niederlassungsfreiheit konkretisierenden Bestimmungen der Dienstleistungsrichtlinie, zum anderen aber auch aus der gebotenen Berücksichtigung des in der Charta der Grundrechte der EU garantierten Grundrechts der Vertragsfreiheit.

So ist die Vertragsfreiheit Bestandteil der unternehmerischen Freiheit, um die es in Artikel 16 der EU-Grundrechtscharta geht. Nach Darlegung des Generalanwalts des EuGH verleiht die Vertragsfreiheit privaten Parteien bestimmte Rechte, unter anderem die Freiheit des Abschlusses des Vertrages, die der Wahl des Vertragspartners, die der Ausgestaltung des Vertragsinhalts und damit des Schuldverhältnisses, sowie die der Vertragsform. Damit umfasst die Vertragsfreiheit auch das Recht der Vertragsparteien zur freien Bestimmung des Preises für die Leistung und schließlich auch das Recht, den geschlossenen Vertrag zu ändern. Die Regelungen der HOAI zur Mindestsatzbindung der Honorare (und ebenso Höchstsatzbindung!) schränken diese Vertragsfreiheit der freien Preisbestimmung ein. Da die Regelungen der HOAI, insbesondere § 7 HOAI (2009/2013), nicht nur gegen die Bestimmungen der Dienstleistungsrichtlinie verstoßen, sondern zudem eine Einschränkung der durch Art. 16 der EU-Charta garantierten Vertragsfreiheit darstellen, und dürfen diese daher nach Auffassung des Generalanwalts des EuGH durch deutsche Gerichte seit dem 28.12.2009 auch in laufenden Streitigkeiten zu Verträgen, die im Anwendungsbereich der HOAI 2009/2013 geschlossen wurden, nicht mehr angewendet werden.

 

Praxistipp

Auch wenn die Schlussanträge des Generalanwalts beim EuGH für den Gerichtshof nicht bindend sind, und die endgültige Entscheidung des EuGH noch aussteht, stellen die Schlussanträge des Generalanwalts in der Praxis einen wegweisenden Indikator für die endgültige Entscheidung des Gerichtshofs dar, welcher diesen in den meisten Fällen folgt. Das endgültige Urteil des EuGH und seine detaillierte Begründung bleiben also abzuwarten – so lange besteht weiterhin Rechtsunsicherheit.

Für alle ab dem 01.01.2021 – und damit unter dem Anwendungsbereich der HOAI 2021 – geschlossenen Verträge ist das Thema der zwingenden Einhaltung von Mindestsätzen nicht mehr relevant. Architekten und Ingenieure können sich mithin auch nicht mehr auf das sichere Auffangnetz der HOAI verlassen. Vielmehr gilt verbindlich genau das Honorar, das die Parteien – in Textform! –  vereinbart haben. Der soliden Honorarkalkulation sowie der Regelung von Öffnungsmöglichkeiten für Mehr- und Zusatzhonorare kommt damit ganz wesentliche Bedeutung zu. Die schriftliche Abfassung der Honorarvereinbarung in Textform (als abgeschwächte Form der Schriftform, jetzt bedarf es nicht mehr der Unterschrift auf einer gemeinsamen Vertragsurkunde) ist jedoch zwingend zu beachten. Denn anderenfalls gelten im Zweifel weiterhin die Mindestsätze als vereinbart. Auch wenn diese jetzt Basissätze heißen.

 

Rechtsanwältin Alexandra Riemann

Fachanwältin für Bau- und Architektenrecht