Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im September 2010 ein sogenanntes „Piloturteil“ gegen Deutschland erlassen, worin der fehlende Rechtsschutz bei überlangen Verfahren als strukturelles Defizit bemängelt wurde. Zur Beseitigung dieses Defizits hat der Gesetzgeber nunmehr das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren erlassen, welches am 03.12.2011 in Kraft getreten ist (BGBl. I vom 02.12.2011, Nr. 60, S. 2303). Damit wurde erstmalig die Möglichkeit geschaffen, Entschädigungsklage gegen den Staat zu erheben und Ersatz für die Nachteile, die aufgrund unangemessen langer Verfahrensdauer entstanden sind, zu verlangen.
Voraussetzung eines dahingehenden Entschädigungsanspruchs ist zunächst, dass die lange Dauer des Verfahrens gegenüber dem Gericht gerügt wird, damit dieses die Möglichkeit zur Abhilfe hat. Eine solche ist nur zulässig, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen wird. Die Verzögerungsklage selbst kann frühestens sechs Monate nach Erklärung der Verzögerungsrüge erhoben werden (§ 198 Abs. 5 GVG).
Wann ein Verfahren als unangemessen lang beurteilt wird, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Maßgeblich für die Beurteilung ist zunächst das Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter im Ausgangsverfahren, Schwierigkeit, Umfang und Komplexität des Falles sowie die Bedeutung des Rechtsstreits sowohl für den Entschädigungskläger als auch für die Allgemeinheit (Musterprozess). Der Entschädigungsanspruch umfasst sowohl den vollen Ersatz des materiellen Schadens als auch einen Ausgleich immaterieller Schäden.
Wesentlich ist, dass der Entschädigungsanspruch verschuldensunabhängig ist, es also nicht darauf ankommt, ob den Richtern oder den Gerichts- und Landesjustizverwaltungen ein Vorwurf zu machen ist. Amtshaftungsansprüche, die auf einer schuldhaften Amtspflichtverletzung beruhen und somit zu einer Verzögerung des Verfahrens geführt haben, bestehen weiterhin fort.
Fazit:
Es ist zwar positiv zu bewerten, dass ein Entschädigungsanspruch für überlange Gerichtsverfahren geschaffen wurde, allerdings stellt sich die Frage nach der praktischen Relevanz des Gesetzes. Letztendlich sind es die Gerichte, die selbst über ihr Fehlverhalten zu entscheiden haben und wie heißt es so schön: „Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus“. Es bleibt daher abzuwarten, ob insbesondere aufgrund der Unbestimmtheit der Voraussetzungen des Entschädigungsanspruchs dahingehende Ansprüche überhaupt geltend gemacht und letztendlich auch durchgesetzt werden können.
Als Hinweis: Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes betrug im Jahr 2010 die Dauer von Verfahren vor den Amtsgerichten im Bundesdurchschnitt 4,7 Monate bzw. den Landgerichten 8,1 Monate. In einigen Ländern lagen die Werte deutlich darüber. Mitunter betrug die Verfahrensdauer 5,8 Monate vor den Amtsgerichten, bei den Landgerichten sogar 11 Monate. 13 % der Prozesse vor den Landgerichten dauern länger als 1 Jahr, 6 % sogar länger als 2 Jahre.
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