EuGH, Urteil vom 18.01.2022, Rs. C-261/20   

Deutsche Gerichte dürfen in Verfahren zwischen privaten Prozessparteien die europarechtswidrigen Regelungen zum HOAI-Mindestsatz weiterhin anwenden. Dies entschied am 18.01.2022 der Europäische Gerichtshof (EuGH), nachdem er vor mehr als zwei Jahren (Urteil vom 04.07.2019, Rs. C-377/17) entschieden hatte, dass Deutschland mit seiner HOAI und deren verbindlichen Höchst- und Mindestsatzhonoraren gegen die sog. Dienstleistungsrichtlinie und damit gegen EU-Recht verstößt.

Nicht klar und in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte streitig war, wie im Hinblick auf den vom EuGH 2019 festgestellten EU-Rechts-Verstoß des zwingenden Preisrechts der HOAI mit solchen Alt-Verträgen umzugehen ist, die vor dem 01.01.2021 unter dem Anwendungsbereich der HOAI 2009 und HOAI 2013 geschlossen wurden, und bei welchen die Honorarvereinbarungen die Mindestsätze der HOAI unterschreiten. Streitig war, ob dem Unionsrecht insoweit unmittelbare Wirkung zukommt, und die Gerichte daher die HOAI-Mindestsatzregelungen, die dem EU-Recht widersprechen, nicht mehr anwenden dürfen, d. h., ob das Unionsrecht dem deutschen nationalen Recht der HOAI insoweit vorgeht. Dies hat der EuGH jetzt verneint. Deutsche Gerichte haben ihr nationales Recht zwar soweit wie möglich unionsrechtskonform auszulegen, dies dürfe aber nicht zu einer Auslegung gegen das nationale Recht führen. Daraus folgt gemäß EuGH, dass ein deutsches Gericht nicht allein aufgrund des EU-Rechts verpflichtet ist, eine Bestimmung des nationalen Rechts, die mit dem EU-Recht in Widerspruch steht (hier also § 7 HOAI 2009/2013) unangewendet zu lassen. Unbeschadet dessen bestehe die Möglichkeit des Gerichts, die Anwendung der EU-widrigen Regelung aufgrund von innerstaatlichem, deutschem Recht auszuschließen, zum anderen könne die Partei, welcher durch die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht geschädigt würde, Ersatz des ihr daraus entstehenden Schadens verlangen.

Der EuGH hat somit abweichend von den Schlussanträgen seines Generalanwalt vom 15.07.2021 (wir hatten im September berichtet) entschieden, dass der europäischen Dienstleistungsrichtlinie damit keine unmittelbare Wirkung auf in Deutschland unter dem Deckmantel der HOAI 2009/2013 geschlossene Architektenverträge zukommt. Auf die vom Generalanwalt in den Schlussanträgen angesprochene Niederlassungsfreiheit und das in Artikel 16 der EU-Grundrechtscharta garantierte Grundrecht der Vertragsfreiheit hingegen geht der EuGH nicht ein.

Praxistipp

Auch wenn zu begrüßen ist, dass der EuGH eine lang ausstehende rechtliche Frage nunmehr entscheiden hat und damit zahlreiche ausgesetzte gerichtliche Verfahren, die sog. Mindestsatz-Aufstockungsklagen zu Inhalt haben, wieder fortgesetzt werden können, scheint die dadurch erlangte Rechtssicherheit nur vordergründig.

Klar ist, dass sich Architekten/Ingenieure bei Verträgen, die vor dem 01.01.2021 geschlossen wurden, hinsichtlich ihres Honorars weiterhin auf den Mindestsatz der HOAI berufen können, die Gerichte sind – so der EuGH – nicht allein aufgrund des Unionsrechts verpflichtet, § 7 HOAI mit seinen Mindestsätzen unangewendet zu lassen. Unklar bleibt, wie die Gerichte aber mit der Aussage des EuGH umgehen werden, dass ihnen die Möglichkeit bleibt, die Anwendung der unionsrechtswidrigen Mindestsatzregelung „aufgrund innerstaatlichen Rechts“ auszuschließen. Die Möglichkeit zur Unterschreitung der Mindestsätze bestand bislang lediglich aus § 7 Abs. 3 HOAI 2009/2013 in Ausnahmefällen, zudem konnte der Architekt/Ingenieur in Einzelfällen gemäß § 242 BGB nach dem Grundsatz von Treu und Glauben an ein den Mindestsatz unterschreitendes Honorar gebunden sein. Interessant wird zudem, wie mit dem vom EuGH zugesprochenen Schadensersatzansprüchen gegen den deutschen Staat wegen der Unvereinbarkeit von HOAI und Unionsrecht umzugehen sein wird, und worin der kausal entstandene Schaden tatsächlich liegt.

Es bleibt abzuwarten, ob der BGH, dessen Vorlagebeschluss vom 14.05.2020 (VII ZR 174/19) durch das vorliegende Urteil vom EuGH beantwortet wird, in seinem jetzt auf dieser Grundlage zu fällenden Urteil gegebenenfalls bereits wegweisende Ausführungen zu seinem Verständnis der Rechtsfolgen des EUGH-Urteils geben wird, nach welchen sich sodann voraussichtlich auch die Instanzgerichte richten werden.

Ungeklärt bleibt letztlich weiterhin, was gilt, wenn nicht beide Parteien „Private“ sind, sondern Auftraggeber die öffentliche Hand ist.

Für alle ab dem 01.01.2021 – und damit unter dem Anwendungsbereich der HOAI 2021 – geschlossenen Verträge ist das Urteil nicht mehr relevant. Ab dem 01.01.2021 stellen die Honorare der HOAI – unionsrechtskonform – nur noch unverbindliche Empfehlungen dar. Abweichungen nach oben und unten sind jederzeit möglich, sofern diese – in Textform – vereinbart werden. Ohne Regelung zwischen den Vertragsparteien gelten jedoch auch jetzt weiterhin die Mindestsätze, auch wenn diese jetzt Basissätze heißen.

Rechtsanwältin Alexandra Riemann

Fachanwältin für Bau- und Architektenrecht